KISS Interview: Selbsthilfegruppe - MS Kassel-City

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2019

„Man muss das Beste daraus machen“
In der Selbsthilfegruppe zu Multipler Sklerose hat auch Fröhlichkeit einen festen Platz

Über Multiple Sklerose (MS) kursieren einige Vorurteile. Weder ist sie eine psychische Krankheit, noch muss sie im Rollstuhl enden. Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe „MS-Gruppe Kassel-City“ sind diesen Vorurteilen bereits begegnet. Sie treffen sich einmal im Monat, um Informationen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen im Umgang mit dieser Krankheit, die sehr unterschiedlich verlaufen kann. Wie sie verläuft, lässt sich nicht vorhersagen, was bei Betroffenen zu Verunsicherung führt. Umso hilfreicher ist die Begegnung in der Gruppe.

Multiple Sklerose ist „wie eine Ü30 Party. 1000 Gesichter und kein hübsches dabei“, sagt Karsten und betont, der Spruch sei nicht von ihm. Tamara, Dirk und Svenja lachen. Diese Aussage ist neu für sie, obwohl sie alle einige der 1000 Gesichter dieser entzündlichen Krankheit kennengelernt haben. Dennoch ist die Atmosphäre locker und offen, immer wieder wird an diesem Abend gelacht, wechseln Momente großer Ernsthaftigkeit mit Fröhlichkeit und Leichtigkeit ab.

Die Gruppe ist im Sommer 2018 entstanden, nach einem von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft initiierten Informationsabend. Beim ersten Treffen kamen mehr als 20 Interessierte, erzählt Dirk. Daraus ist ein fester Kern von rund sieben Betroffenen zwischen Ende 20 bis über 50 Jahre entstanden. Auch Angehörige und Partner sind willkommen.

Bei Dirk begann die Krankheit mit einem Kribbeln im Fuß. Am letzten Tag in der Klinik eröffneten ihm die Ärzte, er habe MS und werde das Kribbeln jetzt öfter haben. Mehr nicht. Auch Tamara fühlte sich mit der Diagnose MS von den Ärzten alleingelassen. Bis diese Diagnose gestellt wurde, vergingen bei ihr mehrere Jahre. Diese Erfahrung machen viele MS-Erkrankte, ihre Symptome werden mit anderen Ursachen erklärt. Svenja hatte Glück, eine Augenärztin „schlug bei mir schnell Alarm“ und vermutete Multiple Sklerose als mögliche Ursache ihrer Sehnervenentzündung, zumal bei ihr noch andere typische Symptome dazukamen.

Die Diagnose MS hat sie alle anfangs aus der Bahn geworfen. „Für mich war an dem Tag das Leben zu Ende“, sagt Karsten, der das Wort Multiple Sklerose ein halbes Jahr lang nicht aussprechen konnte. Dirk hat sich ein Jahr lang völlig abgekapselt. Wie geht das weiter, fragte und fragt sich Tamara. Wenn die Symptome in Beinen und Augen gar nicht mehr weggehen, was dann? „Man kann nichts mehr planen“, ergänzt Svenja, denn morgen kann sich die Krankheit schon wieder verschlechtert haben, lauert der nächste Schub. Dirk blieb zehn Jahre schubfrei, dann trafen ihn gleich mehrere Schübe schwer.

Gute Ärzte nötig
In ihrem persönlichen Umfeld wusste auch niemand Bescheid. Wer die Krankheit kannte, verband sie mit einem Ende im Rollstuhl, was ja keineswegs zutreffen muss. Selbst Verwandte reagierten mit Abwehr, konnten nicht mit der Krankheit umgehen. Sie alle hätten sich gute Ärzte gewünscht, die aufklären und informieren. Dirk sagte sich nach einem Jahr, „du ziehst das jetzt durch und guckst, was passiert.“ Karsten findet es bewundernswert, dass er das schafft. „Du kannst es ja nicht ändern“, meint Dirk. Svenja nickt, ändern kann man es nicht mehr. Also müsse man das Beste daraus machen. Als MS-Erkrankter schaut man positiv in die Zukunft, doch die Akzeptanz fällt nicht immer leicht. Die medikamentösen Möglichkeiten sind in den vergangenen Jahren erweitert worden, „ein Glück für alle Patienten“, meint die Gruppe.

Ohne einen guten Neurologen, der sich mit Multipler Sklerose auskennt, geht es nicht. Darin sind sie sich einig. Einen solchen zu finden, ist nicht leicht, zumal es nicht ausreichend Neurologen gibt. Die Selbsthilfegruppe empfinden sie alle als hilfreich. Den Austausch über Informationen, Forschungsergebnisse, Veranstaltungen, Ärzte, Therapien und Medikamente in lockerer Atmosphäre schätzen sie. Verstanden zu werden von den anderen Gruppenmitgliedern, die aus eigener Erfahrung wissen, was ein Schub und diese Krankheit bedeutet. „Ich habe immer gedacht, ich bin der Psycho“, stellt Karsten fest. „Und dabei sind wir hier alle bekloppt“, sagt Svenja und alle lachen.

Aufgefangen zu werden, als es ihr schlecht ging, war für Tamara eine wichtige Erfahrung mit der Gruppe. Sie konnte wegen eines Schubs lange nicht kommen. Die anderen schickten ihr Nachrichten über WhatsApp und kümmerten sich. „Wir waren immer bei dir“, sagt Dirk und Tamara bestätigt, dass sie sich immer dazugehörig und integriert gefühlt habe.

Über die WhatsApp Gruppe tauschen die Gruppenmitglieder zwischen den Treffen Informationen aus, treffen sich auch mal spontan, ob nun zum Kaffee oder beim „Rudelsingen“. „Guter Buschfunk“, sagt Svenja und lacht. Sie habe immer gute Laune, wenn sie aus der Gruppe kommt und freut sich auf die Treffen. Alle nicken. Natürlich geht es bei den Treffen um die Krankheit, wie sie damit umgehen und was sie fühlen. Doch sie haben noch eine Menge anderer Themen. Ab nächstem Jahr planen sie beispielsweise Aktivitäten zu Multipler Sklerose und Sport.

Information zu Multiple Sklerose (MS)
MS ist eine chronisch-entzündliche Krankheit, die das zentrale Nervensystembetrifft. Sie umfasst Gehirn und Rückenmark, meist beginnt dieKrankheit im frühen Erwachsenenalter zwischen 20 und 40 Jahren. Ärztenennen MS auch Enzephalomyelitis disseminata (ED), die lateinischeBezeichnung für im Gehirn und Rückenmark verstreut auftretene Entzündungen.Bei einem Schub treten solche Entzündungsherde einzeln oder mehrfach mit entsprechenden Ausfällen auf. Die Symptome sind vielfältig, zu Beginn treten häufig Sehstörungen oder Lähmungen auf, Kribbeln oder Taubheitsgefühle. In Deutschland sind rund 240 000 Menschen erkrankt, Frauen doppelt so häufig wie Männer. Die Ursache ist nach wie vor ungeklärt, wahrscheinlich spielen das Immunsystem, Umweltfaktoren und Erbanlagen eine Rolle. MS lässt sich nicht heilen, ist aber behandelbar, Ziele sind Schübe zu verhindern und das Fortschreiten zu verlangsamen bzw. zu stoppen. Aufgrund der vielfältigen Symptome gilt MS als „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“.
Quelle: Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, www.dmsg.de

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