KISS Interview: MPN-Selbsthilfegruppe

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2022

Zum eigenen Experten werden
Die Knochenmarkserkrankungen Myeloproliferative Neoplasien verlaufen individuell unterschiedlich

„Myeloproliferative Neoplasien“ (MPN) sind tückisch. Die chronischen Erkrankungen des blutbildenden Knochenmarks, die sich hinter dem sperrigen Begriff verbergen, sind nicht heilbar und sie können sehr unterschiedliche Verläufe haben. Werden sie nicht erkannt und behandelt, kann es im schlimmsten Fall zu lebensgefährlichen Komplikationen kommen. Austausch und Information bietet eine Selbsthilfegruppe in Kassel, die 2020 gegründet wurde.

Gruppengründerin Gabriele Meyer erfuhr im August 2019 von ihrer Erkrankung. Bis es zu dieser Diagnose kam, lag ein langer Weg hinter ihr. Blutuntersuchungen wiesen schon früh auf einen erhöhten Wert der Thrombozyten – der Blutplättchen – hin. Na ja, sagte der Arzt. Vermutlich Folge einer Entzündung. Etwa 2016 gesellte sich ein heftiger Juckreiz dazu – der Besuch einer Hautärztin brachte keine Linderung, sondern den Vorschlag, Joghurt wegzulassen. Augenflimmern führte beim Neurologen zu der Diagnose Stress oder Augenmigräne. Dann meldete sich ihr Zeh mit immer heftigeren Schmerzen. Schließlich schickte der Hausarzt sie zum Hämatologen. Er riet ihr zum blutverdünnenden Medikament ASS, das ihre Symptome sofort linderte, und diagnostizierte unter anderem mit einer Knochenmarkpunktion: Ihr Knochenmark produziert zu viele rote Blutkörperchen. Gabriele Meyer litt unter Polycythaemia Vera (PV), einem der Krankheitsbilder der MPN. Der Hämatologe stellte die Diagnose aufgrund der Symptome, des Blutbilds und verschiedener Untersuchungen, beispielsweise der Gene, sowie einer Knochenmarkpunktion.

Eine Diagnose, die beunruhigte. Ihr Arzt habe sie gut informiert und im Internet fand sie das MPN Netzwerk, eine Selbsthilfeinitiative, die Informationen zu den Erkrankungen sowie ein Online-Forum für Patienten und Angehörige bietet. Gabriele Meyer entdeckte hier auch Regionalgruppen. In Kassel existierte jedoch keine solche Selbsthilfegruppe.

Austausch in der Gruppe
Auf Anraten des Netzwerks wandte sich Gabriele Meyer an die KISS. Im Februar 2020 fand ein erstes Treffen mit sieben Betroffenen dieser seltenen Krankheit statt, im Herbst ein zweites. Corona zwang zu einem Online-Austausch, die Gruppe trifft sich jedoch wieder in Präsenz bei der KISS. Solche Präsenztreffen sind für alle Betroffenen viel ergiebiger, erläutert die Gruppenleiterin. Der Austausch untereinander ist unkomplizierter und „vor allem sitzen wir zusammen an einem Tisch. Das Wir-Gruppengefühl wird gestärkt.“

Mittlerweile kommen rund 14 Betroffene aus Kassel, Nordhessen und Südniedersachsen bis nach Göttingen in die Gruppe. Sie tauschen sich darüber aus, wie es ihnen ergangen ist, welche Medikamente eine Hilfe sein können, über Ärzte und Therapien, welche Möglichkeiten der Anerkennung einer Behinderung oder der Erwerbsminderung es gibt. Vor allem das gegenseitige Verständnis für die Krankheit und deren Folgen tut gut.

Die stark erhöhte Zahl an roten oder weißen Blutkörperchen beziehungsweise Blutplättchen kann unter anderem Durchblutungsstörungen, erhöhte Blutungsneigung, Gefäßverschlüsse, Schwindel, Kopfschmerzen, Sehstörungen sowie Müdigkeit und Abgeschlagenheit verursachen. Mal geht es den Erkrankten besser, mal viel schlechter. „Ich bin oft müde und schlapp“, erzählt Gabriele Meyer. Die Absage einer Verabredung wegen ihrer Müdigkeit kann ihr Gegenüber oft nicht nachvollziehen. „Du siehst doch gut aus, du kannst nicht so krank sein“, ist ein Satz, den Betroffene kennen.

Unterschiedliche Entwicklungen
MPN Erkrankte müssen mit vielen Ungewissheiten leben. Wie wird es weitergehen? Wann verschlechtert sich mein Zustand? Brauche ich vielleicht irgendwann eine Stammzellen-Transplantation? „Man weiß einfach nicht genau, wie sich die Erkrankung entwickeln wird.“ Das sorgt manchmal für schlafgestörte Nächte. Aktuelle Behandlungsrichtlinien zur Diagnose und Therapie von MPN-Erkrankungen gibt es zwar (sie sind unter www.dgho-onkopedia.de/de/onkopedia/leitlinien abrufbar), doch die Therapie richtet sich nach dem Patienten und den Symptomen, ein Patentrezept gibt es nicht. Deshalb stellte ein Arzt in einem Vortrag fest: „Ihr seid verantwortlich und müsst euer eigener Arzt werden.“

Umso wertvoller ist der Austausch in der Gruppe, was gegen die Symptome geholfen hat. Gabriele Meyer fand beispielsweise heraus, was ihren Juckreiz lindert: eine ganz normale After-Sun-Lotion. Eins ist ihr wichtig: „Wir sprechen nicht nur über die Erkrankung, sondern ebenso über andere Themen“ und die schönen Seiten des Lebens wie Reisen, kulturelle Veranstaltungen oder Enkelkinder. Schließlich lautet das Ziel, die Lebensqualität zu verbessern und zu erhalten.

Myeloproliferative Neoplasien
Unter dem Begriff Myeloproliferative Neoplasien (MPN) wird eine Gruppe seltener, bösartiger Erkrankungen des Knochenmarks zusammengefasst, bei denen zu viele rote Blutkörperchen, weiße Blutkörperchen und/oder Blutplättchen gebildet werden. Ursache dieser chronischen Erkrankung ist eine genetische Veränderung der blutbildenden Stammzellen im Knochenmark, aus denen sich alle anderen Blutzellen entwickeln, die im Laufe des Lebens zufällig, aufgrund bestimmter genetischer Veranlagungen oder durch Umwelteinflüsse erworben werden. Zu den häufigsten Formen der MPN zählen die essentielle Thrombozythämie (ET), Polyzythämia vera (PV), primäre Myelofibrose (PMF) und die chronische myeloische Leukämie (CML). Myeloproliferative Neoplasien sind seltene Erkrankungen. Jedes Jahr werden nur etwa ein bis zwei Fälle pro 100 000 Einwohner neu diagnostiziert. Eine MPN kann alle Altersgruppen betreffen, ist aber am häufigsten bei Erwachsenen um die 60 Jahre. Männer erkranken etwas häufiger als Frauen. Die Erkrankungen können derzeit nicht medikamentös geheilt werden, da der Verlauf der MPN unterschiedlich ist, gibt es keine einheitliche Therapie.
Quellen: www.mpn-netzwerk.de, kompetenznetz-leukaemie.de

Mehr zur Gruppe finden Sie hier:
 MPN Selbsthilfegruppe Nordhessen (Öffnet in einem neuen Tab)