KISS Interview: Selbsthilfegruppe für Aphasiker

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2018

„Ich fühle mich hier immer herzlich willkommen“
Selbsthilfegruppe für Aphasiker bietet Raum für Zusammensein und Kommunikation

Eine ernste Erkrankung verändert das Leben. Die Betroffenen werden aus ihren gewohnten Bahnen geworfen. In einer Welt, in der Kommunikation vor allem über Sprache stattfindet, ist der Verlust von Sprache dramatisch. Aphasiker erleben genau diesen Verlust. Ihre

Fähigkeit zu sprechen, verstehen oder schreiben ist eingeschränkt oder abhanden gekommen. Seit 30 Jahren bietet die Selbsthilfegruppe für Aphasiker ihnen einen Raum für Begegnung, Kontakt, Informationen und Erfahrungsaustausch über Therapiemöglichkeiten und Alltagsbewältigung.

Oskar Kauer kam vor 20 Jahren in die Gruppe, nachdem ein Schlaganfall sein Leben und das seiner Frau Ursula radikal verändert hatte. Mit 42 Jahren verlor er die Sprache, konnte nur noch A, E, I, O, Anja und Ja sagen. Was das heißt, „kann man sich nicht vorstellen“, sagt seine Frau, die ganz neue Wege der Kommunikation mit ihrem Mann finden musste. „Ich habe ihm Fragen gestellt, die er mit Ja beantworten konnte“, erzählt sie.

Oskar Kauer, Ansprechpartner der Gruppe, glaubte nach seinem Schlaganfall, dass er nach einem Jahr wieder sprechen, vielleicht stundenweise seiner Arbeit als Bankkaufmann nachgehen könnte. Doch eine Untersuchung nach einem halben Jahr machte deutlich: Er würde nicht wieder in den alten Beruf zurückkönnen. Es dauerte Jahre, bis er wieder einigermaßen sprechen konnte. Manchmal fehlt ihm ein Wort, dann hält er mitten im Satz inne und denkt einen Moment nach. Fällt ihm jemand ins Wort, verliert er leicht den Faden.

„Dann schweige ich lieber“
Das geschieht Aphasikern oft. Das Umfeld reagiert ungeduldig, weil sie langsam sprechen. Freundschaften gehen verloren, auch bei den Kauers war das so. Gruppengründerin Sigrid Kölsch erinnert sich an eine Patientin, die tränenüberströmt zu ihr in die Logopädie kam. Sie wollte Brötchen kaufen und die Verkäuferin meinte: „Na, so früh schon betrunken?“ Eine Erfahrung, die viele Aphasiker machen. Die Konsequenz aus solchen Erlebnissen fasst Oskar Kauer zusammen: „Der Betroffene sagt sich dann, ich schweige lieber.“

Ein zentraler Satz, findet Heike Müller-Bündgen, begleitende Logopädin. Aphasie führt zu einer Sprechangst, die Betroffenen trauen sich nicht mehr zu sprechen und isolieren sich. Zwar bleibt die Denkfähigkeit erhalten, doch neben der Sprache sind oft auch Verstehen, Lesen und Schreiben beeinträchtigt. „Ich habe anfangs gemalt“, sagt Oskar Kauer. „Meine Frau hat die Bilder dann gut gedeutet.“ Noch heute muss er beim Schreiben jeden Buchstaben überlegen.

Ohne Angst sprechen
Für ihn war der wichtigste Effekt in der Gruppe, ohne Angst sprechen zu können. Einen angstfreien Raum als Übungsfeld zu erleben. Als er in die Gruppe kam, redeten sie über sich, „da habe ich verstanden, die haben das Gleiche wie ich.“ Nach und nach fasste er Vertrauen und sprach immer mehr. „Wir fühlen uns verstanden, hier wird man für voll genommen“, sagt Ursula Kauer.

Niemand muss sprechen. Gerade weil alle wissen, wie schwierig reden sein kann, finden die Aphasiker auch andere Wege der Kommunikation. Jeder wird einbezogen, und sei es nur durch ein Kopfnicken oder Kopfschütteln. „Jeder weiß, wie man sich verhält, damit der andere es versteht“, sagt Heike Müller- Bündgen. Beispielsweise wird langsamer geredet, um verstanden zu werden. Die Betroffenen erleben sich wieder als sprachlich wirksam, sind endlich wieder dabei und stehen nicht nur am Rand.

Zwanglose Kommunikation
Alle können sich akzeptiert fühlen und sind Teil der Gruppe. Bei den Gruppentreffen werden nach der Begrüßung zuerst organisatorische Dinge besprochen. Bei zwangloser Kommunikation gibt es Kaffee und Kuchen. Es werden Sprachspiele angeboten, Referenten zu verschiedenen Themen eingeladen, gemeinsame Fahrten organisiert. „Für manche ist das der einzige Ausflug im Jahr“, sagt Ursula Kauer. Besonders für Alleinstehende sind solche Aktivitäten wichtig. Kommt jemand Neues in die Gruppe, wird er einbezogen und darf erst einmal ankommen. Die Probleme spielen meist erst später eine Rolle, wenn in einer Runde gefragt wird, wie es geht.

Zuerst einmal steht die Fröhlichkeit auf der Agenda. Geht es mal darum, die Gruppentreffen anders zu gestalten, kommt meist: Eigentlich wollen wir uns unterhalten. „Ich fühle mich hier immer willkommen, herzlich willkommen“, sagt Oskar Kauer. Auch für seine Frau und andere Angehörige ist die Gruppe wichtig, sie können sich hier austauschen und werden mit ihren Problemen und Anliegen verstanden. Die Mitglieder machen sich gegenseitig Mut, denn der Weg zurück zu den Worten ist oft langwierig und führt über Höhen und Tiefen. „Das ist wie das Wetter“, sagt Oskar Kauer. Jedenfalls hatte er von Anfang an den Eindruck, dass alle Mitglieder gerne in die Gruppe kommen. Ihm und seiner Frau geht es genauso. Und das „ist etwas wert.“

Information zu Aphasie
Aphasie ist eine Sprachstörung, die nach einer Hirnschädigung auftreten kann (meist durch Schlaganfall, Schädelhirntrauma, Tumor oder entzündlichem Gehirnprozess) und bedeutet „Verlust der Sprache“. Durch die Aphasie sind Sprechen und Verstehen, Lesen und Schreiben betroffen. Denkvermögen, persönliches und allgemeines Wissen sind nicht gestört. Aphasiker leiden oft unter Begleitsymptomen wie Lähmungen, Feinmotorikstörungen und eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit. Bewegungen gelingen nicht mehr, alltägliche Tätigkeiten geraten durcheinander, die Aufmerksamkeit ist eingeschränkt.
Quelle: www.aphasiker.de

Selbsthilfegruppe wird 30
Vor 30 Jahren gründete Sigrid Kölsch die Gruppe für Aphasiker. Die Gruppe startete mit sechs Betroffenen, später waren es inklusive der Angehörigen 60 Mitglieder. Noch heute sind zwei Gründungsmitglieder dabei. Es war anfangs schwierig, einen passenden Gruppenraum zu finden. Schließlich fand die Gruppe eine Bleibe für 26 Jahre im Gemeindehaus der Lutherkirche. Seit vier Jahren finden die Treffen in den Räumen der KISS statt.

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