KISS Interview: Selbsthilfegruppe Wege aus Manipulation

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2022

Wenn die Beziehung toxisch ist
Psychische Gewalt will kleinmachen und demütigen – Selbsthilfegruppen stärken Betroffene

Psychische Gewalt hat viele Gesichter: manipulieren, beschimpfen, verspotten, bloßstellen, drohen, herabsetzen bis hin zu Erpressung. Im Gegensatz zur physischen Gewalt ist die emotionale Gewalt unsichtbar. Die Täter haben oft eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Die Opfer leiden massiv, verlieren ihren Selbstwert, entwickeln Ängste, werden psychisch krank. Manche leiden ein Leben lang unter solchen toxischen Beziehungen. In Kassel hat sich eine Selbsthilfegruppe für russischsprachige Menschen gegründet, die Erfahrungen mit manipulativen Beziehungen haben. Deutschsprachige Selbsthilfegruppen zu diesem Thema sollen folgen.

Die einen sprechen von „toxischen Beziehungen“, die anderen nennen es „Traumabindung“. Eins ist beiden gemeinsam: Ein Partner, meist narzisstisch veranlagt, versucht den anderen zu kontrollieren und Macht auszuüben. Psychische Gewalt zielt auf die Gefühle und Gedanken des Gegenübers. Wer sie ausübt, will das Opfer kleinmachen, demütigen, verstören und verängstigen sowie dessen Selbstsicherheit untergraben. Sie geschieht häufig zu Hause, in der Ehe, kann aber ebenso in Schule, Arbeitsplatz oder im Verein vorkommen

Den Partner einschüchtern
Eingesetzt werden dafür häufig Worte. Respektlose Worte, Beleidigungen, Beschimpfungen. Der Partner oder die Partnerin soll eingeschüchtert werden. Beispielsweise, indem Mäuse oder Spinnen in der Nähe freigelassen werden, obwohl er oder sie panische Angst davor hat. Eine perfide Form ist das sogenannte „Gaslightning“. Die Gefühle des Opfers werden als falsch dargestellt, dem Opfer werden Worte oder Handlungen unterstellt, die es nie gegeben hat. Die Wahrnehmung des anderen wird angezweifelt, als falsch dargestellt. Der Täter lässt das Fenster auf, beschädigt Dinge und unterstellt dem Partner oder der Partnerin, schuldig und schlampig zu sein. Das Gegenüber ist an allem schuld, was in der Beziehung nicht funktioniert. Die Fähigkeiten, Aussehen oder der Beruf werden herabgesetzt, sein soziales Umfeld verunglimpft

Kränkungen machen krank
Allmählich verliert das Opfer dieses emotionalen Missbrauchs den eigenen Willen und die Fähigkeit, sich zu wehren. Ständige Kränkungen machen krank, führen zu Schlaflosigkeit, Schmerzen, Angst und Traumata sowie Depressionen. Häufig fühlen sich die Opfer isoliert. Sie haben Angst vor dem Täter oder Angst, dass niemand ihnen glaubt. Denn psychische Gewalt hinterlässt keine blauen Flecken sondern unsichtbare Wunden in der Seele. Ein wichtiger Schritt ist es, sich jemandem anzuvertrauen und nach und nach die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wieder zu entdecken und sich selbst mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Hierzu kann eine Selbsthilfegruppe ermutigen.

Vertrauen und gegenseitige Achtung
Selbsthilfegruppe für russischsprachige Menschen, die in manipulativen Beziehungen leben

Oksana benutzt das Wort „Manipulator“, wenn sie von psychischer Gewalt redet. Ihr ist es gelungen, die Manipulation hinter sich zu lassen und sie hat eine Selbsthilfegruppe für russischsprachige Menschen gegründet, die in toxischen Beziehungen leben. Sie hatte sich in einen Deutschen verliebt, verließ Sankt Petersburg und heiratete ihn. In St. Petersburg hat sie als Wirtschaftsprüferin gearbeitet und ein unabhängiges Leben geführt. Nach einem Jahr kam der gemeinsame Sohn zur Welt. Insgesamt neun Jahre lang lebte sie in Deutschland mit ihrem Mann zusammen und erlebte, wie ihr Selbstbewusstsein nach und nach ausgehöhlt wurde.

Habe ich etwas falsch gemacht?
Er nahm ihr die Papiere weg, sie war finanziell abhängig und er drohte, sie würde bei einer Trennung das Kind und alles andere verlieren. Menschen, die weder die deutsche Sprache beherrschen, keine Verwandten oder Bekannten in der Nähe haben noch sich mit den Hilfen oder rechtlichen Möglichkeiten in Deutschland auskennen, sind besonders anfällig für solche Manipulationen. „Es ist unlogisch, aber irgendwann glaubst du, dass Schwarz eigentlich Weiß ist“, sagt Oksana. Alles, was sie machte und was früher normal war, wurde als falsch dargestellt. „Man ist einfach nicht gut genug, egal, was man tut.“ In manchen toxischen Beziehungen wird jeder Schritt kontrolliert. Wo warst du? Was hast du gemacht? „Und du denkst, oh, habe ich etwas falsch gemacht?“ Mit Liebe hat das nichts zu tun, erkannte Oksana. Der Partner benutzt einen nur.

Als ihr Ex-Mann körperlich gewalttätig wurde, rettete sie sich ins Nachbarhaus, in dem eine russischsprachige Familie wohnte. Sie benachrichtigte die Polizei und holte unter deren Schutz ihren Sohn und zwei Koffer voller Sachen aus dem Haus. „Seitdem habe ich es nie wieder betreten.“ Natürlich versuchte ihr Mann bei der Scheidung, ihr die Schuld zu geben. Versuchte, den Sohn zu manipulieren. Doch Oksana kämpfte sich durch und lebt heute wieder ein unabhängiges Leben.

Mittlerweile hat sie einige russischsprachige Frauen privat beraten, die in derselben Situation waren. Sie lernte Dorkas kennen, einen Verein, der in Selbsthilfe russischsprachige Menschen unterstützt. Bei einem Infotag von Dorkas hielt die Leiterin der KISS, Carola Jantzen, einen Vortrag. Oksana war beeindruckt von der Unterstützung, die von der KISS geboten wurde. Also entschloss sie sich, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, die sich seit August 2021 trifft. Bisher nur in kleinerem Kreis, denn das Thema ist angst- und schambesetzt.

Gruppe unterstützt moralisch
„Wir unterstützen uns moralisch“, sagt die Gruppenleiterin. Die Frauen bekommen Tipps und Informationen sowie Hilfe auf dem Weg, unabhängiger zu werden. Vertrauen und gegenseitige Achtung sind Grundelemente der Gruppe. Die Gruppenleiterin plant einen Abend zum Thema „Ängste“ Was hält uns in toxischen Beziehungen? Was werden die Leute sagen? Werden die Kinder leiden? In manipulativen Beziehungen „sitzt du in einem Busch mit Dornen, er sticht und tut überall weh“, schildert Oksana. Doch irgendwann kennt man die Schmerzen und das Gefährliche ist: Man gewöhnt sich daran und bleibt.

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Heilung ist die Akzeptanz. Zu akzeptieren, dass man manipuliert wird, in einer toxischen Beziehung lebt und vom Manipulator nichts zurückbekommen wird. Sich das einzugestehen hilft, Angst und Schuldgefühle zu überwinden und die Manipulation des anderen abzuwehren. Es ist erst einmal ungewohnt, sich aus diesen Manipulationen zu befreien. „Aber Heilung ist möglich“, weiß Oksana aus eigener Erfahrung.

Mehr zur Gruppe finden Sie hier:
 Wege aus Manipulation (Öffnet in einem neuen Tab)