KISS Interview: Elternkreis Kassel

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2015

„Wir können zuhören und verstehen“
Selbsthilfe stärkt seit 40 Jahren Eltern von Kindern mit Suchtproblemen

Seit 40 Jahren treffen sich im Elternkreis Kassel Eltern und andere Angehörige, deren Kinder oder Verwandte Suchtprobleme haben. Sie sprechen über ihre Ängste, ihre Belastungen, Erfahrungen und Gefühle und erleben Verständnis und Geborgenheit. Der Elternkreis stärkt sie und hilft ihnen dabei, neue Wege für sich zu finden und zu gehen.

Suchtkrankheit, erst recht die Abhängigkeit von illegalen Drogen, ist keine „anständige" Krankheit – zumindest wird sie von der Gesellschaft und vom Umfeld nicht so gesehen, erzählen Eltern des Vorstands des Elternkreis Kassel im Gespräch. Umso entlastender ist es für die Eltern, Großeltern oder andere Angehörige, im Elternkreis anonym und vertraulich über ihre Sorgen und Nöte reden zu können und verstanden zu werden. Meist sind es Eltern, die in die Gruppe kommen. Die meisten von ihnen erwarten ein Patentrezept und kommen in dem Glauben, dass eine Therapie beim Kind schon alles regeln wird. Dass dies ein Irrtum ist, dass der Weg aus der Suchtkrankheit lang und keineswegs immer erfolgreich ist, diese Erkenntnis ist zuerst einmal bitter für die Eltern.

Doch sie treffen in der Gruppe auf andere Menschen, die wissen wie es ist, mit der Sucht eines Kindes konfrontiert zu sein und zu leben. „Wir haben keine Patentrezepte, aber wir können zuhören und verstehen, weil wir das Gleiche erlebt haben", sagt ein betroffener Vater. Die Eltern haben oft niemanden, mit dem sie über die Sucht der Kinder sprechen können. Sie fragen sich: Was habe ich bloß falsch gemacht? Wie sollen wir das nur unseren Freunden und der Familie erklären? Wie konnte das nur passieren? Wir haben doch alles gegeben – und nun das! Sie fühlen sich schuldig und schämen sich. Solche Gefühle werden vom Umfeld oft noch verstärkt. Manche Eltern entwickeln Depressionen und Ängste.

Neue Wege einschlagen
Im Elternkreis fühlen sie sich aufgehoben und verstanden. „Alleine das Reden hat mir sehr geholfen", sagt die Vorsitzende des Kasseler Vereins, Gerlinde Müller. Bei all den „Katastrophen", die die Sucht des Kindes mit sich bringt, jemanden zu haben, den man anrufen kann und der zuhört. „Es war alles nur noch halb so schlimm, weil ich mich angenommen und aufgefangen gefühlt habe", sagt eine Mutter aus dem Vorstand. Sie lernten in der Gruppe viel über Sucht, über die Gründe des Verhaltens ihrer Kinder. Die Kinder seien einfach zur falschen Zeit über die falsche Brücke gegangen, Suchtkrankheit komme in allen Familien vor, stellt ein Vater fest. Deshalb müsse man keine Schuldgefühle haben. Den Kindern geht es schlecht – unabhängig davon, wie gut oder schlecht sich ihre Eltern fühlen. Doch die Erkenntnis der eigenen Ohnmacht gegenüber der Suchtkrankheit, die Kinder loszulassen und neue Wege einzuschlagen ist manchmal ein langer Prozess. An dessen Ende geht es darum, gut für sich selbst zu sorgen. Diese Schritte zu gehen und sich selbst und seine Stärken wiederzufinden, dabei hilft die Gemeinschaft der Gruppe.

„Mir hat der Elternkreis viel gegeben", sagt Gerlinde Müller, deshalb engagiert sie sich heute im Vorstand. Einer anderen Mutter gibt die Gemeinschaft viel, sie wird unterstützt und gestärkt und kann andere Eltern unterstützen. Der Elternkreis bietet auch Freizeitaktivitäten, „wir machen viele schöne Dinge", sagt ein Vater. Dazu gehören Wanderungen, Theaterbesuche oder Tagesseminare, beispielsweise zum Thema Körpersprache. Es werde auch miteinander gelacht und man hat Spaß – was manchen Eltern anfangs fremd erscheine.

Entstanden ist der eingetragene Verein Elternkreis Kassel vor 40 Jahren (s. dazu Kasten). Eins ist in all den Jahren gleich geblieben: Die Eltern stehen der Suchtkrankheit ihrer Kinder heute noch genauso hilflos gegenüber wie vor 40 Jahren. Hier hilft der Elternkreis dabei, neue Wege zu gehen, sich von der Sucht der Kinder zu lösen und eigene Stärken und Ressourcen (wieder) zu entdecken.

Infos zur Geschichte des Elternkreises
Der Elternkreis Kassel entstand am 10. Juni 1975 im Wohnzimmer des Ehepaar Löhe auf Initiative des Arztes Dr. Ulrich Mohs hin, der den Vorschlag zu einer solchen Selbsthilfegruppe machte. Der erste Vorsitzende war Wolfgang Löhe, dann übernahm seine Frau, Maria Löhe, den Vorsitz des Kasseler Elternkreises. Sie führte den Elternkreis viele Jahre bis zu ihrem 75. Lebensjahr. Sie war gemeinsam mit ihrem Mann maßgeblich daran beteiligt, dass in anderen Städten Hessens Elternkreise entstanden. Das Ehepaar regte in den 70er Jahren die Gründung des Bundesverbands der Elternkreise an. Beide Ehepartner wurden mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Karl-Heinz Lange übernahm den Vorsitz des Vereins im Jahr 2000 und behielt diese Funktion bis 2007.
Schon Maria Löhe hatte sich für Drogenabhängige im Kasseler Strafvollzug engagiert, eine Aufgabe, die Lange weiterführte und dort einen Gesprächskreis drogenabhängiger Männer übernahm.
Während vor 40 Jahren Drogen wie Haschisch, Kokain und Heroin im Vordergrund standen, nahmen im Laufe der Zeit die synthetischen Drogen wie Ecstasy oder Speed zu, erläutern die heutigen Vorstandseltern. Damit ist auch die Zahl von so genannten Doppeldiagnosen gestiegen, also von Suchtkrankheit gemeinsam mit psychischen Erkrankungen. Der Verein Elternkreis Kassel hat heute 48 Mitglieder. Er gehört dem Bundesverband der Elternkreise suchtgefährdeter und suchtkranker Söhne und Töchter (BVEK) an.

Mehr zur Gruppe finden Sie  hier (Öffnet in einem neuen Tab)