Gesellschafter stellen fachwissenschaftliche Begleitung vor

Sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit herausragender wissenschaftlicher Expertise in den Bereichen Antisemitismus, Perspektiven aus globalen Kontexten und Postkolonialismus, Kunst sowie Verfassungsrecht werden die documenta in den kommenden Monaten fachwissenschaftlich begleiten.

Den Vorsitz des Gremiums wird Prof. Dr. Nicole Deitelhoff, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts „Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“ (HSFK) und geschäftsführende Sprecherin des „Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ), übernehmen. Das haben die Gesellschafter der documenta und Museum Fridericianum gGmbH bekannt gegeben. Angesichts der antisemitischen Vorfälle hat der Aufsichtsrat am 15. Juli 2022 einige Maßnahmen zur Aufarbeitung beschlossen, darunter die Einsetzung dieser fachwissenschaftlichen Begleitung. Ziel ist, auch in Zukunft der documenta ihren weltweit einzigartigen Rang als Ausstellung für zeitgenössische Kunst in Kassel zu sichern. 

Der Vorschlag für die Besetzung der fachwissenschaftlichen Begleitung wurde von Angela Dorn, Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, und Dr. Susanne Völker, Kulturdezernentin der Stadt Kassel, im Auftrag der Gesellschafter der documenta und Museum Fridericianum gGmbH erarbeitet. Der Aufsichtsrat hat diesem Vorschlag zugestimmt und der Gesellschafterversammlung empfohlen, die ihn ebenfalls bestätigt hat. 

„Wir danken den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern herzlich für ihre Bereitschaft, so kurzfristig ihre wissenschaftliche Expertise zur Verfügung zu stellen – das ist bei so hochkarätigen Forscherinnen und Forschern angesichts zahlreicher anderer Verpflichtungen keineswegs selbstverständlich“, erklären Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle, Aufsichtsratsvorsitzender der documenta, seine Stellvertreterin im Aufsichtsrat, Staatsministerin Angela Dorn sowie Kulturdezernentin Dr. Susanne Völker. 

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind zuständig für die erste Bestandsaufnahme der Abläufe, Strukturen und Rezeptionen rund um die documenta fifteen, sollen Empfehlungen für die Aufarbeitung geben und erörtern, welche Aspekte einer vertieften wissenschaftlichen Analyse bedürfen. Außerdem werden sie bei der Analyse möglicher weiterer antisemitischer Bildsprache und Sprache sowie bereits als antisemitisch identifizierten Werken beraten. Die Beratungsergebnisse und Positionen werden dem Aufsichtsrat und den Gesellschaftern vorgelegt, die diese der documenta und Museum Fridericianum gGmbH und den Kuratorinnen und Kuratoren zur Verfügung stellen und in einen Dialog dazu eintreten. Die künstlerische Freiheit ist gewahrt, die kuratorische Verantwortung ist und bleibt explizite Aufgabe der künstlerischen Leitung ruangrupa. „Wir haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen und aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengebracht, damit sie in einen konstruktiven Austausch treten und eine unabhängige Aufarbeitung voranbringen, die uns wichtige Impulse für die Zukunft geben wird. Es wird vermutlich auch Aspekte der Aufarbeitung und Kunstwerke geben, wo es am Ende keine einheitliche Einschätzung geben wird. Entscheidend ist, dass die Sichtweisen transparent sind und miteinander in Dialog treten“, so Geselle und Dorn. 

“Mit der ausgesprochenen Empfehlung für eine fachwissenschaftliche Begleitung hat der Aufsichtsrat sich klar positioniert, Antisemitismus und gruppenbezogene Formen von Menschenfeindlichkeit auch in Kunst und Kultur wirksam zu bekämpfen. Wir erwarten, dass unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Kunstfreiheit, Hinweisen auf mögliche antisemitische Bildsprache und Beförderung von israel-bezogenem Antisemitismus nachgegangen wird“, bekräftigte Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle als Vorsitzender die Entscheidung und Haltung des documenta-Aufsichtsrats. 

„Die auf der documenta fifteen mehrfach gesichteten antisemitischen Motive zeugen von ungebrochener Aktualität und Reproduktion von Antisemitismus. Es ist daher essentiell, dass die antisemitischen Vorfälle und die damit zusammenhängenden Rezeptionen und Vorgänge mit Unterstützung eines fachwissenschaftlichen Gremiums rekonstruiert und aufgearbeitet werden. Die fachwissenschaftliche Analyse weiterer Werke im Hinblick auf antisemitische Motive wird schon in den kommenden Wochen für uns Gesellschafter wichtig sein. Auf dieser Grundlage können nachhaltige Impulse für den Umgang mit antisemitischen Vorgängen im Kultur- und Kunstkontext gezogen werden und so über die documenta hinauswirken. Die Aufarbeitung des Geschehenen und ein Lernen für die Zukunft soll auch das in den vergangenen Wochen verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen“, so Angela Dorn. 

„Die Vertrauensverluste rund um die Vorkommnisse antisemitischer Bildsprache haben diese documenta seither überschattet und unter veränderte Vorzeichen gestellt. Ziel muss es nun sein, den fachlichen und sachlichen Diskurs und den gemeinsamen Dialog zu führen, um verlorenes Vertrauen wiederherzustellen. Künstlerinnen und Künstler aus vielen Teilen der Welt stellen in ihren Projekten wesentliche Fragen unserer Zeit. Eine differenzierte Aufarbeitung der antisemitischen Vorfälle und ihrer Kontexte ist notwendig und gleichzeitig eine Chance, um den Blick auch dafür erneut öffnen zu können.“ erläutert Dr. Susanne Völker. 

„Unsere fachwissenschaftliche Begleitung hat ein zentrales Ziel: Aufzuarbeiten, wie es zu den antisemitischen Vorfällen auf der documenta fifteen kommen konnte und Empfehlungen zu entwickeln, wie im Rahmen der laufenden Ausstellung und über sie hinaus zukünftig damit umgegangen werden kann, damit sich das nicht wiederholt“, so die Vorsitzende des Gremiums, Prof. Dr. Deitelhoff. Das Gremium wird inhaltlich und organisatorisch unterstützt durch Dr. Cord Schmelzle, Koordinator des Teilinstituts Frankfurt des FGZ. 

Die Hauptarbeit des Gremiums wird über den Ausstellungszeitraum der documenta fifteen hinausreichen, da auch vertiefende wissenschaftliche Studien initiiert werden können. Die wissenschaftliche Analyse der Kunstwerke auf der documenta fifteen, mit Hinweisen auf mögliche antisemitische (Bild-)Sprache, soll noch während der laufenden Ausstellung geschehen. „Die Tatsache, dass mit dem 
Faksimile der Broschüre „Presence des Femmes“ und den darin enthaltenen Zeichnungen des Künstlers Burhan Karkoutly ein weiterer Gegenstand mit antisemitischer Bildsprache bekannt geworden ist, zeigt wie dringend notwendig diese Analyse ist. Es gibt zu Recht ein großes öffentliches Interesse an den Erkenntnissen und Empfehlungen der fachwissenschaftlichen Begleitung, dessen sind wir uns bewusst. Zugleich erfordert wissenschaftliches Arbeiten ein Mindestmaß an Gründlichkeit und Ruhe, das wir ermöglichen wollen. Wir bitten um Verständnis, dass Pressearbeit gezielt ablaufen wird und Mitglieder sich nicht einzeln öffentlich äußern wollen und werden.“, so Geselle und Dorn abschließend. 

In der fachwissenschaftlichen Begleitung wirken mit: 

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff (Vorsitz), Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik an der Goethe-Universität Frankfurt, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts „Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“ (HSFK) und Sprecherin des „Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich soziale und politische Konflikte und Konfliktregulierung sowie der Institutionen- und Demokratietheorien. 

Prof. Dr. Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden; Kunst-historikerin, Germanistin und Kuratorin. Wissenschaftlicher Schwerpunkt: Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. 

Prof. Dr. Julia Bernstein, Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt University of Applied Sciences. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich der Antisemitismusforschung und zielt auf deren Transfer besonders in die Bildungsarbeit.  2017 hat sie den qualitativen Teil der Studie „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland“ geleitet, die im Auftrag des zweiten unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus durchgeführt wurde, und 2021 hat sie an der Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten und der Kultusministerkonferenz mitgewirkt. 

Marina Chernivsky, Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin der Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt OFEK e.V. sowie Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment in Trägerschaft der ZWST. Sie forscht (u.a.) zu Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus und Antisemitismus und ist Co-Leiterin der Bundesländerstudienreihe „Antisemitismus im Kontext Schule“ in Kooperation mit der FH Potsdam. Bis 2017 war sie Mitglied im Zweiten Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus und Mitherausgeberin des zweiten Antisemi-tismusberichts des Deutschen Bundestages. Seit 2019 ist sie Mitglied im Beratungsgremium des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. 

Prof. Peter Jelavich, PhD, Professor of History, Johns Hopkins University; Kultur- und Geistesgeschichte Europas seit der Aufklärung, mit Betonung auf Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Zensur der Künste in Deutschland seit 1890; und deutsch-jüdische Kulturgeschichte, insb. Populärkultur. 

Prof. Dr. Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg für Fragen des Verfassungsrechts.

Prof. Dr. Facil Tesfaye, Juniorprofessor an der School of Modern Languages and Cultures, Universität Hong Kong & visiting fellow an der EHESS (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales) Paris. Er wurde an der McGill University (Montréal/Canada) promoviert und hat zuvor einen Masterabschluss in Political Science an der Université du Quebec à Montréal erworben. Sein Grundstudium hat er in African Studies und Political Science an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert. Experte für Deutsche Koloniale Medizingeschichte & globale Kontexte. 

Es können außerdem weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beispielsweise als Sachverständige hinzugezogen werden. Darunter als Berater zur Konstituierung: Prof. Dr. Meron Mendel, Professor für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Publizist, Historiker, Pädagoge.