Bombennacht am 22. Oktober 1943

Eine Zäsur in der Geschichte der Stadt war die Bombennacht in Kassel. Alliierte Fliegerverbände warfen in kurzer Zeit etwa 400.000 Stabbrandbomben ab. Sie zerstörten rund 80 Prozent der Gebäude, darunter fast die gesamte Altstadt.

Totalansicht der Innenstadt zum Kriegsende mit Blick über Martinskirche und Druselturm Richtung Bettenhausen. Im Vordergrund verläuft die Königsstraße.

Kassel hält die Erinnerung wach

Bis heute gedenkt Kassel der Bombennacht mit einer Kranzniederlegung und einem Gedenkgottesdienst in der  Martinskirche. Abends, zur Uhrzeit, als das Bombardement begann, erklingt dann die stadtweit zu hörende  Osannaglocke. 2023 jährte sich der verheerende Bombenangriff auf Kassel zum 80. Mal und es fanden zahlreiche Erinnerungs-Veranstaltungen statt. 


Impressionen von der Gedenkveranstaltung am 22. Oktober 2023 in der Martinskirche


Ereignis apokalyptischen Ausmaßes

Es war ein Ereignis geradezu apokalyptischen Ausmaßes, das Kassel im Zweiten Weltkrieg heimsuchte: das Flächenbombardement vom 22. Oktober 1943. Um 20.17 Uhr warnten die Sirenen die rund 225000 Menschen in der Stadt, nur wenige Minuten später griffen die alliierten Fliegerverbände an.

Von 20.49 Uhr bis 21.11 Uhr warfen 444 Flugzeuge 416.856 Brandbomben ab -  das waren in bestimmten Arealen der Altstadt zwei pro Quadratmeter. Hinzu kamen noch 594 Sprengbomben und 288 Luftminen. (Quelle: J.A. Huber, Stadtgeschichte Kassel, S.355). Der riesige nächtliche Feuerschein war noch aus über 50 Kilometer Entfernung  zu sehen. In den Überresten brannte es noch tagelang.

Kassel war nach diesem Angriff nicht mehr dieselbe Stadt: 85 Prozent der Wohnungen und 65 Prozent der Industrieanlagen waren zerstört. In der mittelalterlichen Altstadt war ein Feuersturm entfacht worden, der 97 Prozent der größtenteils aus Fachwerk bestehenden Häuser vernichtete. Die Opferzahlen wurden mit bis zu 10.000 Toten angegeben, hinzu kamen unzählige Verletzte. Das Ausmaß des körperlichen und seelischen Leides in jener Bombennacht ist aus heutiger Sicht unvorstellbar. Fast jeder, der die Bombardierung überlebte, hat Angehörige oder Freunde verloren. Für einen Großteil der Einwohnerinnen und Einwohner haben die Bomben zudem nichts mehr übrig gelassen vom einstigen Hab und Gut. Die Stadt war ein Trümmerhaufen und vieles, was die Menschen an Kassel liebten, nicht mehr da.

Kassel hat erfahren, was Krieg bedeutet.

Zeitzeugen über die Kasseler Bombennacht 1943. Es war ein Ereignis apokalyptischen Ausmaßes: das Flächenbombardement vom 22. Oktober 1943. Um 20.17 Uhr warnten die Sirenen die rund 225.000 Menschen in der Stadt, nur wenige Minuten später griffen die alliierten Fliegerverbände an.

Rüstungsstandort Kassel im Visier

Allgemein verfolgten die Alliierten mit den Bombardierungen deutscher Städte das Ziel, über die Luftstreitkräfte den Gegner auf dessen Boden zu treffen -  das nationalsozialistische Deutschland, das den Krieg ausgelöst hatte und dessen Armeen insbesondere Osteuropa verheerten. Außerdem übten die Briten Vergeltung für die besonders in den Anfangszeiten des Krieges erfolgten Zerstörungen englischer Städte wie London, Birmingham und Coventry durch deutsche Fliegerstaffeln. Die Bilanz des Bombenkrieges führt insgesamt rund 600.000 Tote in Deutschland und 60.000 in Großbritannien auf. 160.000 alliierte Flieger verloren im Einsatz ihr Leben (Quelle: Jürgen Brüns, NDR.de, "Bombenkrieg: Der Tod kommt ins Hinterland", 2008).

Besonders Im Fadenkreuz der alliierten Luftangriffe war Kassel vor allem wegen seiner Bedeutung als Rüstungszentrum. Die Firma Henschel & Sohn im Stadtteil Nord-Holland produzierte hohe Stückzahlen an Lokomotiven (BR 52), Panzern („Tiger") und Lastwagen. An anderen Stellen der Stadt war der Flugzeugbau stark vertreten. Der 22. Oktober 1943 war der gewaltigste von insgesamt 40 Bombenangriffen, die rund 6700 Flugzeuge zwischen 1940 und 1945 auf Kassel flogen. Die von Ihnen hinterlassenden Zerstörungen waren so tiefgreifend, dass die Stadt lange brauchte, um ihre Funktionalität und Lebensqualität wiederzuerlangen. Ein Indiz dafür ist die Einwohnerzahl, die vor dem Zweiten Weltkrieg über 200.000 betragen hatte, Anfang 1946 dann bei 116.000 lag und sich nur langsam erholte. Den Vorkriegsstand erreichte Kassel erst Ende der 50er-Jahre wieder.

Traumatische Erlebnisse, aber auch Zeichen der Hoffnung

Ihre teilweise traumatischen Erlebnisse in der Bombennacht und danach haben viele Menschen nicht losgelassen. Manchem erging es bei der Rückkehr wie Hans Germandi: Als der damals junge Soldat - heute als Kasseler Historiker bekannt - kurz nach der Bombennacht nach Kassel kam, fand er dort, wo sein Elternhaus gestanden hatte, nur Trümmer und einen Balken mit drei Worten: „Familie Germandi tot“. Manchen Begebenheiten gaben den  Menschen aber auch Kraft: So wurde das berühmte Kasseler Friedrichsgymnasium - dort gingen unter anderem die Brüder Grimm zur Schule – zwar fast vollständig zerstört, aber das Portal mit zwei Statuen blieb erhalten. Sie verkörperten das alte christliche Lebensmotto  „Ora et labora“ - bete und arbeite. Fast unbeschadet erhob sich auch der Lutherkirchturm über die Trümmer der Stadt und wurde ein Symbol der Hoffnung. Am Morgen nach der Bombennacht traf sich dort eine kleine Gruppe unter der Leitung des damaligen Pfarrers Preger zu einer Andacht zur Liedstrophe „Morgenglanz der Ewigkeit“.

Die Treppenstraße - ein Vorzeigeprojekt des Wiederaufbaus

Wiederaufbau im Zeichen der Moderne

Bedeutsam war auch der Verlust früherer Identitäten durch die Zerstörungen. Das Kasseler Lebensgefühl, das in der früheren engen Altstadt noch im Bild vom "Ahlen Nest" (Altes Nest) kulminiert war, ließ sich zunächst kaum noch nachempfinden. Im Vergleich zu anderen betroffenen Städten gab es in Kassel wenige Restaurierungen historischer Gebäude.

Der Marstall (Markthalle) wurde beispielsweise erst Anfang der 60er Jahre historisierend aufgebaut. Das Orangerieschloss in der spätbarocken Karlsaue entstand sogar erst 1981 wieder neu, anlässlich der damsligen Bundesgartenschau. Der öffentliche Wiederaufbau verpflichtete sich statt dessen bewusst der Moderne, was bis heute in Gebäuden mit beispielhafter 50er-Jahre-Architektur wie dem Staatstheater sichtbar wird. Als Teil einer neuen Identität hat sich eine andere Idee der 50er erwiesen: die documenta als weltweit bedeutendste Ausstellung moderner Kunst.

Zur Wahrheit der Bombennacht gehört abschließend, dass der Ausgangspunkt der größten Zerstörung in der Geschichte Kassels in Deutschland selbst lag. Es waren der Nationalsozialismus und der von Deutschland ausgelöste Zweite Weltkrieg, die die Bombennacht erst möglich gemacht haben. Seiner historischen Mitverantwortung bewusst, hat Kassel aus der bitteren Vergangenheit Lehren gezogen.