Çağla Şahin ist 25 Jahre alt und studiert in München Schauspiel an der Theaterakademie August Everding. Im Jahr 2021 folgte sie wie 118 andere Frauen dem Aufruf, eine „ungehaltene Rede“ zu verfassen, und wurde damit nach Kassel eingeladen. Sie ist in diesem Jahr Mitglied der Jury, welche die neue „ungehaltene Reden“ auswählen wird. Julia Hagen, Dramaturgin im Projekt, hat sich mit Çağla Şahin über die Erfahrungen mit ihrer Rede unterhalten.
Julia Hagen:
Wie bist du auf das Projekt "Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen" aufmerksam geworden?
Çağla Şahin:
Ich bin auf das Projekt durch eine Freundin aufmerksam geworden, die gesagt hat "Hey, du hast doch wahnsinnig viel zu erzählen, und hier ist die Möglichkeit, vielleicht mal über ein Thema zu sprechen, das dich total beschäftigt. Mach da doch mit und schau, wo das hinführt." Also habe ich mir den Aufruf angeschaut, gesehen, dass ich lediglich ein Video einer Rede mit einem Thema meiner Wahl einschicken muss, und das war's auch schon.
Julia Hagen:
Das heißt, du wusstest du sofort, über welches Thema du sprechen willst?
Çağla Şahin:
Ich fand, das war die beste Gelegenheit und der perfekte Aufhänger für das Thema, über das ich sprechen wollte: was es nämlich bedeutet, mit so viel Scham und Angst in zwei Kulturen aufzuwachsen. Ich sage es auch genau so klar in meiner Rede: Was mich ungehalten macht, ist, dass ich schon als kleines Mädchen gelernt habe, mich für die natürlichsten und alltäglichsten Dinge zu schämen. Auch gesamtgesellschaftlich liegt der Grund in der Erziehung von jungen Mädchen und Frauen.
Julia Hagen:
Wie hast du dich gefühlt, als du ausgewählt wurdest und wusstest: Jetzt werde ich über dieses persönliche Thema in der Öffentlichkeit live sprechen?
Çağla Şahin:
Als ich das erfahren habe, konnte ich es erstmal überhaupt nicht fassen: Endlich, endlich darf ich über dieses Thema sprechen." Natürlich war der Gedanke, jetzt das Ganze live aussprechen zu müssen, super aufregend und gleichzeitig auch ein bisschen einschüchternd. Aber dennoch wusste ich, ich will das unbedingt machen.
Julia Hagen:
Im Augenblick gibt es ja wieder eine Ausschreibung, und du wirst mit auswählen, wer am Ende eingeladen wird, die eigene Rede vor Publikum zu halten. Was ist dir bei einer Rede besonders wichtig?
Çağla Şahin:
Ich glaube, was mir bei einer Rede am wichtigsten ist, ist weniger das Thema, sondern wie nah das, was die Person vorträgt, an ihr dran ist. Dass die Rednerinnen über ein Thema sprechen, das für sie total persönlich ist. Natürlich hoffe ich auch darauf, dass die Rednerinnen gesellschaftlich relevante Themen verhandeln.
Julia Hagen:
Was würdest du Frauen raten, die nicht wie du regelmäßig auf der Bühne stehen, aber überlegen, ob sie bei "Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen" teilnehmen?
Çağla Şahin:
Alle Frauen können ungehaltene Frauen sein, völlig unabhängig davon, was sie beruflich machen. Ich rate ihnen: „Seid mutig, traut euch, das zu sagen, was ihr der Welt zu sagen habt, auch wenn ihr vielleicht Lampenfieber habt! Alle Menschen, die sich eure Rede anhören, wollen hören, was ihr zu sagen habt, und deswegen sagt es bitte einfach.
Ich stehe schon seit einigen Jahren auf Bühnen und habe jedes Mal Lampenfieber, ich verspreche mich total oft und bin immer super aufgeregt. Aber eine Sache begleitet mich durch all meine Erfahrungen, die ich auf der Bühne oder beim Vortragen von Texten mache: und zwar die Freude daran, das zu zeigen, was ich für die Welt vorbereitet habe, und das zu teilen, was andere Menschen dringend hören müssen.
Wenn ihr da draußen euch davon angesprochen fühlt, dann bewerbt euch bitte, denn verlieren könnt ihr sowieso nichts.“
Julia Hagen:
Vielen Dank für das Gespräch!