KISS Magazin: Dissoziative Identitätsstruktur, Selbsthilfe

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2020

Das innere Team im Viele-Alltag
Gruppe „Wir sind Viele“ für dissoziative Identität schult Achtsamkeit für eigene Ressourcen 

Zur Unterstützung von Menschen mit einer dissoziativen Identitäts­struktur beziehungsweise Identi­tätsstörung haben zwei Frauen die Selbsthilfegruppe „Wir sind Viele“ gegründet. Die Frauen tauschen sich über ihren Alltag aus und lernen, achtsam mit sich umzugehen und ihre Möglichkeiten zu entdecken. Sie alle haben schwere traumatisie­rende Erfahrungen machen müssen. Jetzt geht es darum, trotz Trauma ein lebenswertes Leben zu leben. In der Selbsthilfegruppe holen sie sich Kraft dafür.

Wenn Menschen wie Kiera im Re­staurant ihr Essen bestellen, kann die Entscheidung schwierig werden. Veganer, Steakesser und eine, die gar keinen Hunger hat, geraten in Widerstreit miteinander. Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstruktur – früher multiple Persönlichkeiten – müssen damit leben, dass sie im Inneren „Viele“ sind. „Man muss Kompromisse finden“, erzählt Kiera. Zum Beispiel bei der Kleidung. Kiera gesteht der männlichen Identität eine Jungshose zu, das Mädchen in ihr bekommt ein rosa Oberteil.

Nicht immer sind Kompromisse so leicht zu erreichen. Denn der eine Identitätsanteil weiß meist nicht, was der andere gemacht hat. Erwiesen ist, dass die verschiedenen Anteile bei einer dissoziativen Störung unterschiedlich auf Reize reagieren. Die Sehstärken können variieren, eine Person ist Links-, die andere Rechtshänder. Kiera vergleicht es mit einem großen Haus, in dem verschiedene Personen wohnen. Mit den einen kann man gut, mit den anderen weniger. Aufgabe in der Therapie ist es, ein funktionierendes inneres Team zu bilden.

Massive Traumatisierungen
Ursache der dissoziativen Identitäts­struktur sind massive Traumatisierungen in der frühen Kindheit, meist erlebten die Betroffenen sexualisierte Gewalt über einen längeren Zeitraum. In dieser Situation greift die Psyche zu der Lösung, Anteile abzuspalten um das Überleben zu sichern. „Ein genialer Schutz der Psyche“, sagt Kiera. Ein wichtiges Ziel der Selbsthilfegruppe „Wir sind Viele“ ist, nicht im Negativen zu verharren, sondern ressourcenorientiert zu denken und einen Raum für aufbauende Aktivitäten in einem sicheren Umfeld zu bieten.

Die beiden Gruppen-Initiatorinnen Kiera und Laura bringen beide Er­fahrungen aus „Viele-Gruppen“ mit. Mit Hilfe der KISS starteten sie die Gruppe in Kassel, die noch in der Gründungsphase ist. Die Gruppenfindung ist ein längerer Prozess, bisher gibt es acht interessierte Frauen. Sie müssen Therapieerfahrung haben, eine gewisse Stabilität mitbringen bei der Selbstorganisation und die Fähigkeit, nicht über Traumainhalte zu sprechen. „Verantwortung für ihr inneres System“ nennt es Kiera. Auch eine therapeutische Unterstützung sollte möglichst gegeben sein.

Vielfältigkeit annehmen
Die Gruppenmitglieder tauschen sich über die Herausforderungen des Viele-Alltags aus und geben Tipps und Hinweise. Beispielsweise wie Auslö­ser für Dissoziation (das teilweise bis vollständige Auseinanderfallen von psychischen Funktionen, die normalerweise zusammenhängen) frühzeitig erkannt werden können und was dagegen helfen kann. Kiera hielt das Bus- und Bahnfahren schwer aus. Statt zu dissoziieren, drückt sie in ihrer Hand einen Kronkorken. Ein Reiz, der ihr hilft, bei sich zu bleiben.

Menschen mit dissoziativen Persönlichkeitsstörungen sind oft einsam. Sie mussten jeden Kontakt zu den Tätern und damit zur Herkunftsfamilie völlig abbrechen. Auch Freunde gingen dabei verloren. Für das Umfeld ist es nicht einfach, sich mit den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen abzufinden. Umso wichtiger sind Menschen, die Gemeinschaft und Sicherheit geben und mit denen man lernen kann, sich „in seiner Vielfältigkeit anzunehmen.“ In der Gruppe wird niemand schief angeguckt, der einen Teddy als Beschützer mitbringt. Die kindlichen Anteile spielen für Betroffene oft eine wichtige Rolle, sie dürfen ausgelebt werden. Denn meist ist es das Kind, das dem Leid der Traumatisierung ausgesetzt war. Doch Kinder sind ebenso Träger von positiven Emotionen und kreativen Momenten. Sie sind wichtig und dürfen in der Gruppe präsent sein, auch um nachzureifen. Deshalb gehören Gesellschaftsspiele, Basteln oder Vorlesen zu den Aktivitäten bei den Treffen.

Achtsamkeit schulen
Vor allem soll die Achtsamkeit ge­schult werden für das, was klappt, was bereits gut gelingt. Die Betroffenen machen sich gegenseitig Mut. Viele sind nicht erwerbsfähig. Was können sie dann tun, um ihr Leben sinnvoll zu gestalten? Vielleicht möchte jemand Klavierspielen lernen. Dann geht es um den Weg, diesen Wunsch vielleicht zu verwirklichen. „Das Leben soll sich nicht nur um das Viele-Sein drehen“, fasst Kiera zusammen. Sie und Laura verstehen sich nicht als Leiterinnen im eigent­lichen Sinn. Die Gruppe soll über die Aktivitäten gemeinsam entscheiden. Denn „jeder ist für sich selbst verantwortlich.“

Infos zu: Dissoziative Identitätsstörung
Eine dissoziative Störung ist ein komplexes psychologisches Phäno­men. Als Reaktion auf ein unerträg­liches Erlebnis blenden die Betrof­fenen Erinnerungen aus bis hin zur Auslöschung der eigenen Identität. Gesunde Menschen empfinden ihr „Ich“ als Einheit von Gedanken, Handlungen und Gefühlen. Bei einer dissoziativen Störung zerbricht die­ses stabile Bild der eigenen Identität. Daher auch die Bezeichnung Disso­ziation (lat. für Trennung, Zerfall, die Fähigkeit, etwas aus dem Alltagsbe­wusstsein abzuspalten). Eine solche Bewusstseinsspaltung steht meist im Zusammenhang mit einem trauma­tischen Erlebnis oder gravierenden Konflikten. 
Quelle: netdoktor.de

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