KISS Interview: Selbsthilfegruppe Parkinson

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2022

Eine „fürsorgliche Solidaritätsgemeinschaft“
Inklusion einmal anders: Parkinson Patienten luden Nicht-Betroffene zum Mitmachen beim Tanzprojekt ein

„Alle Beteiligten erlebten etwas und taten etwas, was sie sich vorher nicht zugetraut hatten“, sagt Vera Borchers zu dem Tanz-Theater-Film „In einem Boot“, der im Rahmen der Digitalen Selbsthilfetage gezeigt wurde (s. Kasten). Vera Borchers leitete von 2013 bis 2019 die Parkinson-Selbsthilfe in Kassel und initiierte mit diesem Film bereits das dritte Tanzprojekt. Bewegung ist für Menschen mit Parkinson wichtig, denn ihr Bewegungsspielraum ist durch die Erkrankung eingeschränkt. Viele trauen sich wenig zu, das Selbstbewusstsein sinkt.

Vera Borchers erfuhr zufällig von New Yorker Choreographen, die eine neue und einfache Bewegungsform entwickelt hatten. Auch in Deutschland gab es bereits Angebote dieser Morris Company für Parkinson-Patienten. Warum also nicht in Kassel, dachte sich die Regionalgruppenleiterin. Seitdem ermöglichte ihr Engagement gemeinsam mit Mitteln der Aktion Mensch drei Projekte. 2017 zeigten Menschen mit Parkinson auf der Bühne im Dock 4 in Kassel tänzerisch „Alles, was ihr seht ist nicht alles ist, was ich bin.“ 2018 folgte „Ich war schon einmal“. Beim dritten Projekt mischte sich ein ungewollter Akteur ein: das Corona-Virus. 

Die Gruppe machte das Beste daraus, schließlich waren alle kreativ. Dieses Mal drehte die Gruppe einen Film. Einzeln oder zu zweit trafen sich die Tänzer und Tänzerinnen mit dem Tanzlehrer Tomas Bünger an einem besonderen Ort in Kassel, so dem Hugenottenhaus oder dem UK14. Die Kamera hielt fest, wie sie sich tanzend ausdrückten. Dabei entstand Inklusion einmal anders. Die Parkinson Gruppe hatte Nicht-Betroffene und professionelle Tänzer zum Mitmachen eingeladen. “Wir wollen am normalen Leben teilnehmen“, sagt Vera Borchers.

Bei den Dreharbeiten gab es manchmal Spannungen zu der Frage, was geht bei Corona? Wie viel Nähe und Gemeinsamkeit wollen oder können wir zulassen? Doch es entwickelte sich ein Zusammenhalt. Vera Borchers spricht von einer „fürsorglichen Solidaritätsgemeinschaft.“ Vor allem entdeckten die erkrankten Menschen: Wir können uns bewegen, wir können etwas ausdrücken und uns zeigen, trotz unserer eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten. So steif sind wir gar nicht. Manche kamen sogar mit weniger Medikamenten aus.

Dieses gestärkte Selbstbewusstsein kann sich im Alltag auswirken. Menschen mit Parkinson sind langsamer, sie brauchen beispielsweise beim Einkaufen mehr Zeit. Sie müssen lernen, mit der Ungeduld der anderen umzugehen. Die anderen Menschen müssen lernen: Menschen mit Parkinson können nicht anders. Vera Borchers zum Beispiel geht offensiv mit ihrer Erkrankung um und weist beim Einkaufen darauf hin, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung einfach langsamer ist. „Es gilt auszuprobieren, wie man am besten durchs Leben kommt“, sagt sie. So wie im Film kann das zur gelebten Inklusion und zum gegenseitigen Verständnis werden.

Infos, Gymnastik, Gemeinschaft
„Die Verläufe einer Parkinson-Erkrankung sind extrem unterschiedlich“, sagt Stefan Dargel, der 2020 die Leitung der Parkinson-Gruppe übernahm. Die Erkrankung des Nervensystems sorgt für eine eingeschränkte Motorik und verlangsamt die Bewegung. Es kann zu Sprach- und Schluckstörungen kommen sowie zum typischen Tremor, einem Zittern. Manche können ihren Alltag gut bewältigen, andere sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen. Solche Verschlechterungen ziehen sich teilweise über Jahrzehnte. Je nach Stadium und Ausprägung der Symptome kommen in der Therapie Medikamente zum Einsatz – zunächst oral, im weiteren Verlauf gegebenenfalls auch als subkutane Spritze bei Bedarf, als Dauergabe über Pumpe in den Magen-Darm-Trakt – Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie und letztlich die tiefe Hirnstimulation über Elektroden. In der Selbsthilfe stützen sich Menschen gegenseitig. Sie kennen die Hürden, die Parkinson mit sich bringt. Dadurch entsteht ein hilfreiches gegenseitiges Verständnis. Die Gruppe organisiert Vorträge von Fachleuten und vergrößert so Wissen und Information. In der Gruppe treffen sich Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungsgraden. Natürlich, sagt Dargel, macht das auch die Auswirkungen deutlich, wenn Parkinson sich verschlechtert. Doch es entsteht eine Gemeinschaft. Neben den Treffen zum Austausch von Erfahrungen bestehen aktuell einige Zusatzangebote wie eine Gruppe betroffener Frauen, für Nordic Walking, ein gemeinsamer Spaziergang sowie ein spezieller Parkinson-Tanzkurs. „Wir sind kein Jammerkreis“, sagt Dargel. Positives Denken und ganz praktische Tipps und Hilfestellungen machen die Akzeptanz der Krankheit einfacher. Wer Parkinson hat „darf sich nicht in einer Ecke verstecken.“

Online zu Parkinson: Film „In einem Boot“ und Übungen für Erkrankte
„Ich bin in einem Kokon, ich will hier raus“, sagt eine Stimme im Off. Ein gefesselter Mensch, eine Frau, die sich hinter Kissen versteckt. Und dann die Erkenntnis: „Der Kokon war weg, es hatte ihn nie gegeben.“ So beginnt der Tanztheater-Film „In einem Boot“ von Tomas Bünger und Johannes Hocks mit der Tänzerin Mareike Steffens und mit Betroffenen der Parkinson-Selbsthilfegruppe Kassel und Nicht-Betroffenen In den folgenden 26 Minuten geht es mal rockig, mal ruhig, mal temperamentvoll und romantisch zu, aber immer ausdrucksstark. Einzelne Menschen tanzen in verschiedenen Kostümen in einem Raum zu unterschiedlicher Musik.

Texte wie die „Reise nach Ithaka“ werden zitiert und in Bewegung umgesetzt, als Symbol für eine Lebensreise. Menschen zeigen sich, betreten neue Räume. Man erkennt die besonderen Einschränkungen der Menschen mit Parkinson. Im Tanz können sie mit ihren Möglichkeiten gleichberechtigt teilnehmen, denn alle sind „In einem Boot“.

Aktiv mitmachen können Menschen beim digitalen Angebot der Physiotherapeutin Silke Engler, präsentiert von der Selbsthilfe-Kontaktstelle Viernheim. Rund 40 Minuten lang zeigt sie Übungen speziell für an Parkinson Erkrankte. Gebraucht werden nur ein Stuhl und ein paar Alltagsgegenstände, wenn man gerade keinen Ball oder Stab da hat. Mit praktikablen, gut erklärten und vorgemachten Übungen werden Beine, Oberkörper, Rumpf, Hände, Arme trainiert. Ein Training für die Beweglichkeit, zudem lassen sich die Übungen gut in den Alltag integrieren.
Beide Filme sind im Rahmen der Digitalen Hessischen Selbsthilfetage 2021 unter www.selbsthilfe-in-hessen.de jederzeit kostenfrei abrufbar.

Mehr zur Gruppe finden Sie hier:
 Deutsche Parkinson Vereinigung e. V. Regionalgruppe Kassel (Öffnet in einem neuen Tab)

TANZFILM "IN EINEM BOOT" | SHG PARKINSON KASSEL

PARKINSON - ÜBUNGEN FÜR DEN ALLTAG | SILKE ENGLER