KISS Interview: SHG - Geschwister psychisch Erkrankter

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2019

Verstanden zu werden, ohne etwas erklären zu müssen
Geschwister psychisch Erkrankter treffen sich - große Offenheit und Verbindlichkeit

Sie sind Außen vor und doch mitten drin, die Geschwister von psychisch Kranken. Ihre Gefühle und Probleme werden weder in der Familie wahrgenommen noch vom Hilfesystem. Das ist in der Selbsthilfegruppe für Geschwister psychisch erkrankter Menschen anders. Dort stehen sie als Geschwister im Mittelpunkt, können sich austauschen und fühlen sich oft erstmals im Leben wirklich verstanden.

Claudia Bach hat stets nach einer Möglichkeit des Austausches gesucht. Deshalb gründete sie im Frühjahr 2017 mit fünf weiteren Geschwistern das Geschwisternetzwerk, das im vergangenen November ein bundesweites Treffen in Kassel organisierte. Ein Ergebnis dieses Treffens ist die Selbsthilfegruppe von Geschwistern von psychisch Erkrankten, die sich seit Dezember einmal im Monat trifft. Die Teilnehmenden sind zwischen 20 und Mitte 60, denn Geschwister sind meist bis zum Lebensende mit der Frage konfrontiert, wie sie mit ihrer erkrankten Schwester oder dem erkrankten Bruder umgehen wollen.

Zwischen Wut und Sorge
Die psychische Krankheit eines Familienmitglieds wirkt sich auf alle anderen in der Familie aus. Geschwister haben ihre eigenen Sorgen und Ängste. Claudia Bach kennt sie aus eigenem Erleben. Sie ist die jüngere Schwester eines Bruders mit chronischer Schizophrenie, dem die Fürsorge der Eltern galt und auf dem deren Fokus lag. Sie sah die verstärkte Fürsorge der Mutter während des Erwachsenwerdens ihres Bruders kritisch, konnte sich jedoch mit niemand darüber austauschen. Ihre Eltern waren stolz auf den Sohn, der wochenlang im Zimmer saß und Gitarre spielte, ihr war es hingegen unheimlich, dass er keine Freunde hatte und immer nur alleine war. Sie fühlte eine Mischung aus Wut auf den Bruder und die Mutter. Gleichzeitig sorgte sie sich um den erkrankten Bruder, bei dem sich alle Hoffnung auf die Besserung seiner Krankheit im Laufe der Jahre zerschlug.

Das gesunde Kind will seine Eltern nicht noch zusätzlich belasten. Wenn das eine Kind schon krank ist, so muss wenigstens das andere das Leben gut bewältigen. „Im Klagen und Jammern sind diese Kinder nicht gut, dafür können sie gut alles alleine regeln“, schildert Claudia Bach. Die gesunden Geschwister übernehmen in der Familie beispielsweise die Rolle eines Vermittlers, geraten in Loyalitätskonflikte und werden manchmal zu Eltern ihrer Eltern, denen sie Trost spenden oder denen sie Entscheidungen abnehmen. Sie selbst haben niemand, um über ihre Sorgen zu reden und bleiben allein und fühlen sich oft sogar einsam. Zwar mittendrin, aber eben doch außen vor. Grenzen sie sich vom psychisch kranken Geschwister und der Familie ab, zieht dies Schuldgefühle und Vorwürfe nach sich.

Zwischen Distanz und Nähe
Die Eltern von Claudia Bach gingen mit der Schizophrenie des Sohnes immer offen um, so dass sie dies bei Freunden auch tun konnte. In vielen Familien herrscht jedoch eine Art Schweigegebot, nach außen werden die Probleme unter den Tisch gekehrt.Nach dem Tod der Eltern stehen Bruder oder Schwester vor der Frage, was mit dem kranken Geschwister werden soll. Müssen sie den psychisch Erkrankten aufnehmen, sich kümmern? So entsteht eine lebenslange Ambivalenz zwischen Distanz und Nähe, die immer wieder neu bewältigt und entschieden werden muss.

Spezifische Sichtweisen
Die Erleichterung ist riesengroß, wenn man in der Gruppe über alle diese Erfahrungen und Gefühle reden kann. Oft erleben die Gruppenmitglieder zum ersten Mal, verstanden zu werden ohne etwas erklären zu müssen. In der Gruppe herrscht eine große Offenheit und Verbindlichkeit sowie ein großes Interesse, sagt Claudia Bach.

Die spezifischen Sichtweisen von Geschwistern auf ein Thema werden ebenso ausgetauscht wie die Frage nach dem Umgang mit Gefühlen wie Schuld, Trauer oder der Angst vor Verletzungen. Wo und wie grenzen sich die anderen ab, an welchen Punkten übernehmen sie Verantwortung? Endlich ist ein direkter Austausch möglich. Und damit schwindet auch das Gefühl von Alleine sein.

Information zu Geschwister der anderen Art
Da sitzen wir in diesem viel zu großen Raum, der uns Platz lässt - zum Annähern und zum Entfernen, zum Denken und zum Sein. Freiraum nur für uns, den wir so noch nicht kennen. Ein kostbares Gut. Früher malte ich mir aus, euch eines Tages bei einem Lagerfeuer zu begegnen, und wissend gemeinsam mit Euch in die Flammen zu blicken, ohne viele Worte zu brauchen. Sind wir die übrig gebliebenen Geschwister? So lang war der Weg hierher, um erzählen und zuhören zu können. Und so unfassbar sind diese wenigen Worte, so beiläufig in den Raum zwischen uns geworfen: „Ja, das kenne ich auch“, sagst Du und beginnst mit Deiner Geschichte. Zum ersten Mal glaube ich diesen Worten, zum ersten Mal sind sie wahr, und es durchfährt mich, als würde augenblicklich meine Seele gerettet. Mit einigen von Euch werde ich wirklich eines Tages an einem Lagerfeuer sitzen, da bin ich sicher, lachend und singend. Und ich lese euch das hier vor. (Lucie, Schwester eines psychisch Kranken)

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