KISS Interview: Herkules – SHG für Blinde und Sehbehinderte

Interview im KISS Selbtshilfemagazin 2019

„Das Leben ist trotzdem schön“
Gruppe für Sehbehinderte und Blinde will Mut machen und Erfahrungsaustausch bieten

Rund 80 Prozent unserer Umwelt nehmen wir über unser Sehvermögen wahr, unsere Gesellschaft ist optisch orientiert. Blinde und Sehbehinderte treffen deshalb immer wieder auf Hürden, die ihnen die Teilhabe an unserer Gesellschaft schwer machen. Mittlerweile gibt es Hilfsmittel und finanzielle Zuschüsse. Darüber zu informieren, sich auszutauschen und aus der sozialen Isolation herauszukommen hat sich die Gruppe „Herkules“ für Blinde und Sehbehinderte vorgenommen. Sie will auch Mut machen, am Leben teilzunehmen.

Gruppengründer Matthias Hocek hat gelernt sich zu trauen. Ganz selbstverständlich sitzt er im Café, schaut seine Interviewerin an und empfiehlt ihr, sich den Film „Bohemian Rhapsody“ über die Rockgruppe Queen unbedingt anzuschauen. Dieses Selbstverständnis hat er sich erarbeitet. Mit sieben Jahren bekam er die erste Brille und die Diagnose „frühkindliche Sehnervschädigung“. Sehschule half nicht und so verschlechterte sich seine Sehkraft in einem schleichenden Prozess zunehmend.

Er erinnert sich an jenen Sommertag im Jahr 2005, an dem er an einer Bushaltestelle stand und zu einer Frau sagte: „Das ist aber ein diesiger Tag.“ Die Frau stellte erstaunt fest: „Nee, das ist doch ein toller und klarer Tag.“ 2012 eröffnete ihm der Augenarzt, dass er medizinisch gesehen blind ist. Anfangs hat ihn seine Blindheit „seelisch runtergezogen“ und depressiv werden lassen. Bis er merkte, dass er nicht alleine ist und es anderen so erging wie ihm. Er beschloss, sich nicht runterziehen zu lassen. „Das Leben ist trotzdem schön“, sagte er sich.

Kraft, Mut und Vertrauen
Doch Matthias Hocek weiß auch, dass manche Betroffene sich frustriert in die eigenen vier Wände zurückziehen und in Gefahr geraten zu vereinsamen. Aktivitäten außerhalb der vertrauten Umgebung machen Mühe, müssen erlernt werden oder lassen sich nur in Begleitung bewältigen. Kommunikation und Begegnungen reduzieren sich auf die Akustik, Gestik und Mimik können nicht wahrgenommen werden. Freundschaften zu pflegen wird schwieriger. Begegnungen mit der Umwelt brauchen psychische Kraft, Mut und Vertrauen. Vor allem ältere Menschen trifft eine Sehbehinderung hart.

„Wer nicht hartnäckig ist, sitzt alleine zu Hause“ weiß Matthias Hocek. Das Leben als Blinder und Sehbehinderter ist nicht einfach. Einzukaufen funktioniert am besten dort, wo man sich auskennt. In manche große Geschäfte wie Saturn traut sich selbst er sich nicht alleine hinein. Eine Adresse oder Telefonnummer ohne das technische Hilfsmittel Smartphone herauszufinden, erweist sich als so gut wie unmöglich. Kochen oder Backen ist mit vielen Stolpersteinen gepflastert und technische Geräte zu bedienen ebenfalls. Selbst Eierkochen ist ein Problem. Und Unterschriften unter einen Vertrag zu leisten ebenfalls.

Informationen über Hilfen
Deshalb ist es wichtig, die Hilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte zu kennen. Die moderne Technik erleichtert das Leben, beispielsweise ein Smartphone mit Spracherkennung. Matthias Hocek setzte sich bei der Krankenkasse durch und hofft, bald einen Computer mit Sprache zu bekommen. Vier Stunden pro Woche hat er einen persönlichen Assistenten, der ihn beispielsweise bei Unterschriften oder der Briefwahl unterstützt und ihm bei Ausflügen oder Einkäufen zur Seite steht. „Viele Betroffene wissen nicht, dass sie eine solche Assistenz bekommen können“, erzählt er.

Jeder Blinde kann zusätzlich Blindengeld beantragen, allerdings sind die Summen in jedem Bundesland unterschiedlich. Auch bei einer Sehbehinderung sind zusätzliche finanzielle Hilfen möglich. Hörbücher, Podcasts und der Besuch von Veranstaltungen schaffen mehr Lebensqualität.

Natürlich muss man sich trauen, mal um Hilfe zu fragen. Die weitaus meisten Menschen sind hilfreich. Doch es gibt auch andere. So sagte eine Verkäuferin zu einer blinden Bekannten „sie möge das nächste Mal ihren Betreuer mitbringen“; behandelte ihn eine Mutter sehr unfreundlich, weil er aus Versehen gegen den Kinderwagen gestoßen war. Davon sollte man sich jedoch nicht irritieren lassen, die meisten Menschen seien freundlich.

Manchmal muss man hartnäckig sein, um ein Ziel zu erreichen. Als Matthias Hocek sich um Arbeit bemühte, bekam er zu hören: „Seien Sie doch froh, dass Sie in Rente sind“. Doch genau das war er nicht. „Dafür bin ich noch zu jung.“ Arbeit ist für den 51-Jährigen ein wichtiges Stück Teilhabe.

Wege aus der Isolation
In der Selbsthilfegruppe, die sich Mitte April erstmals traf, sollen Informationen und Erfahrungen ausgetauscht werden. Je nach Bedarf und Interesse sind Ausflüge oder gemeinsame Aktivitäten möglich. Auch Angehörige sind in der Gruppe willkommen. Die Gemeinschaft der Gruppe kann unterstützen und deutlich machen: Es geht anderen so wie mir, ich bin nicht alleine. Sie zeigt Wege aus der sozialen Isolation und wie sich das Leben als Blinder und Sehbehinderter lebenswert gestalten lässt. Und nicht zuletzt kann sie Mut machen, sich nicht in sein Schicksal zu ergeben, sondern weiter am Leben teilzunehmen. Was seiner Meinung nach dafür wichtig ist: Perspektiven aufzubauen und Ziele für sich zu haben.

Information zu Blindheit/Sehbehinderung
In Deutschland leben rund 155 000 blinde und zwischen 500 000 und 1,1 Millionen sehbehinderte Menschen. Nach deutschem Recht gilt: Ein Mensch ist sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 30 Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt.
Ein Mensch ist hochgradig sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als fünf Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. Ein Mensch ist blind, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als zwei Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt.
Quelle: www.woche-des-sehens.de

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